Der Schaum der deutschen Diplomatie
09.12.2016
Steinmeiers "Ehrenmitgliedschaft" gingen zahllose
Aufenthalte seines Staatsministers Michael Roth (SPD) in Thessaloniki
voraus. Wie Mitglieder der Jüdischen Gemeinde berichten, habe Roth die
Rechtsansprüche der NS-Opfer immer wieder als unverhandelbar bezeichnet,
aber mit diversen Angeboten auszutesten versucht, welcher
Zahlungsbetrag zum faktischen Rechtsverzicht der jüdischen Gläubiger
führen könnte.
Dreikommafünf Prozent
Nach geringfügigen Zuwendungen für ein Gedenkkonzert
in Thessaloniki und Zahlungen für die Renovierung eines Teils der
Monastirioten-Synagoge sei es bei Verhandlungen im Berliner
Außenministerium, an denen Vertreter der Gemeinde teilnahmen, um einen
höheren Betrag gegangen. Diese Geschäfte wurden 2016 mit der Zusage über
10 Millionen Euro abgeschlossen [1] - gerade 3,5 Prozent der
geschuldeten Verbrechenseinnahmen ohne Berechnung irgendeiner
Kompensation für die zerstörten Leben von mehr als 50.000 Menschen.
Schweigegeld
Die von Kritikern als "Schweigegeld" [2] bezeichnete
Summe scheine in einem direkten Zusammenhang mit der Verleihung der
"Ehrenmitgliedschaft" an Steinmeier zu stehen, heißt es in
Protestschreiben prominenter Gemeindemitglieder. Die Angehörigen der
deportierten und ermordeten Juden seien im Vorfeld nicht konsultiert
worden, die Verleihung habe man bis 48 Stunden vor Steinmeiers Auftritt
verheimlicht. Der Vorgang stelle eine "direkte Beleidigung des Andenkens
der Opfer dar" [3], erklärt Paul Isaac Hagouel, ein Gemeindemitglied,
dessen Vater in Auschwitz-Birkenau als Häftling Nummer 118633 einsaß.
Gekauft
In mehreren Protestschreiben, die auf einer
öffentlichen Gemeindeversammlung am 7. Dezember in Thessaloniki verlesen
wurden, heißt es: "Die deutsche Regierung verweigert fortwährend, die
griechischen Opfer zu entschädigen - Christen wie Juden ... . Mit keinem
'Geldgeschenk' kann unser Gerechtigkeitsgefühl gekauft werden." Zu den
Unterzeichnern gehört die bekannte jüdische Historikerin Rena Molho,
deren Werk "Der Holocaust der griechischen Juden" die SPD-nahe
Ebert-Stiftung noch im November in Berlin vorgestellt hatte. Die
Empörung galt den Manövern der deutschen Außenpolitik: "Wir alle haben
gelernt, den Schaum der Diplomatie zu unterscheiden von der Tiefe der
historischen Verantwortung", wurde aus dem Schreiben eines weiteren
Gemeindemitglieds zitiert.
Ein Wunder
In seiner Rede in der Monastirioten-Synagoge hatte
Steinmeier ein jahrzehntealtes Schema unverbindlicher Beileidsäußerungen
des Auswärtigen Amtes variiert und mit einem Schwall moralischer
Bekenntnisse die deutsche Flucht vor der internationalen Rechtsordnung
vernebeln wollen. Während Steinmeier in Thessaloniki von einem "Wunder
der Versöhnung" [4] sprach, aber die materiellen Sühnepflichten der
Bundesregierung verschwieg, bedauerte er bei einem ähnlichen Anlass das
Leid der italienischen NS-Opfer und ließ es in "(e)inen Weg der
Freundschaft" [5] einmünden. Dieser Weg finde "in einem vereinten
Europa" seine Vollendung. Kein Wort zu der in Italien verurteilten
Strategie der Bundesregierung, die etwa 650.000 Militärinternierten der
Jahre 1943 bis 1945 von materiellen Kompensationen auszuschließen und
das Gedenken an die 50.000 italienischen Zwangsarbeiter, die in
Deutschland starben, ohne Schadenersatz in Museen abzuschieben.
Passato
Seine Rede über diesen Personenkreis beschloss
Steinmeier mit einem "(S)chmunzeln" [6] und einer italienischen Phrase,
die er mehrmals wiederholte: "'Passato'. 'Vorbei'. Vorbei. Zu Ende und
vergangen ist das schmerzvolle Kapitel deutsch-italienischer
Geschichte".[7] Die in Gegenwart des italienischen Außenministers
gefallenen Sätze, die für die deutsche Außenpolitik programmatisch sind,
leugnen den anhaltenden Schmerz all jener italienischen Opfer, denen
das Auswärtige Amt unter Frank-Walter Steinmeier jeden Rechtsanspruch
gegen Deutschland entziehen möchte, und übergeht die juristischen Klagen
der Überlebenden. Obwohl das Auswärtige Amt dabei immer wieder
scheitert, so jüngst in Florenz [8], weigert sich Berlin, den Urteilen
des höchsten italienischen Gerichts Folge zu leisten [9], und lässt es
auf Pfändungsverfahren gegen deutschen Staatsbesitz in Italien ankommen.
Militärische Perspektiven
In die unverbindlichen Bekenntnisse über den "Weg der
Freundschaft" "in einem vereinten Europa" mischt das Auswärtige Amt
vermehrt militärische Perspektiven. So rief Steinmeier Ende November
seine Amtskollegen, darunter den italienischen Außenminister, auf, man
müsse "den Bevölkerungen in den Mitgliedsstaaten zeigen" [10], wie "die
Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europas voranzubringen"
sei.
Kreuzzug-Dimensionen
Demnach führt von den unabgegoltenen deutschen
Massenverbrechen im Zweiten Weltkrieg ein gerader Weg nach "Europa", das
sich für neue Kriege wappnen müsse, ohne für den vergangenen Rechnungen
ausgestellt zu haben. In den Worten von Giorgos Margaritis, Professor
für Geschichte an der Universität von Thessaloniki: "In einer Zeit, in
der die deutsche politische Führung den Wunsch hegt, dass ihre
politische Hegemonie von den 'gleichberechtigten' Regierungen und
Völkern der Europäischen Union akzeptiert wird, nimmt die Kampagne der
'Verbesserung' der Vergangenheit wahre Kreuzzug-Dimensionen an."[11]
David Saltiel85 Jahre
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