Donnerstag, 10. November 2011

Gewalt in Familien und Zwangsheirat

09.11.2011

Zwangsheirat verletzt die Menschenrechte

 

Das Bundesfamilienministerium hat jetzt erstmals Erkenntnisse über versuchte oder vollzogene Zwangsheiraten in Deutschland vorgelegt. Die Studie basiert auf gesicherten Erkenntnissen von Beratungseinrichtungen.

 
Zum Problem der Zwangsverheiratung in Deutschland gab es bislang nur wenige wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse. Deshalb hatte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die Studie "Zwangsverheiratung in Deutschland - Anzahl und Analyse von Beratungsfällen" in Auftrag gegeben. Am Mittwoch (09.11.2011) wurde sie in Berlin vorgestellt.
Familienministerin Kristina Schröder
(Foto: K. Schröder)Familienministerin Kristina SchröderDarin werden erstmals bundesweit Erkenntnisse von Beratungseinrichtungen für Menschen, die von Zwangsverheiratung bedroht oder betroffen sind, erhoben und systematisch ausgewertet.
"Zwangsverheiratungen sind in Deutschland ein eigener Straftatbestand, und dennoch ist die Wirklichkeit komplizierter, als es der Blick ins Gesetzbuch erahnen läßt", sagt Bundesfamilienministerin Kristina Schröder bei der Übergabe der Studie an die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer.
Für die von der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes und der Hamburger Lawaetz-Stiftung durchgeführte Studie wurden Betroffene von 830 Beratungsstellen in ganz Deutschland erfasst.
Logo der Frauenrechtsorganisation Terre des FemmesFür die Rechte der Frauen: Terre des Femmes"3.443 Fälle von Zwangsverheiratung haben die Beratungsstellen für das Jahr 2008 für Deutschland registriert", sagt Ministerin Schröder. Man müsse sich dabei bewusst machen, dass sich "nur die Mutigen" beraten lassen. Denn wer von Zwangsverheiratung bedroht sei und sich dagegen wehre, riskiere Isolierung in der eigenen Familie. Das sei auch der Grund dafür, so Schröder, warum die Dunkelziffer der "unerreichbar Eingeschüchterten" so hoch sei und von niemandem verlässlich eingeschätzt werden könne.
Mehrheit der Betroffenen hat Migrationshintergrund
Die meisten Betroffenen haben einen Migrationshintergrund: 23 Prozent sind in der Türkei geboren, acht Prozent in Serbien, dem Kosovo oder Montenegro, jeweils sechs Prozent im Irak und in Afghanistan, fünf Prozent in Syrien, drei Prozent in Marokko sowie jeweils zwei Prozent in Albanien, dem Libanon und Pakistan.
Eine Frau mit Kopftuch schaut sich die Einbürgerungsurkunde der Bundesrepublik Deutschland an
(Foto: dpa)Kein Schutz vor Zwangsheirat - Einbürgerungsurkunde der Bundesrepublik Deutschland
In Deutschland zur Welt gekommen sind 32 Prozent der Opfer von Zwangsverheiratung, und 44 Prozent besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft. Aber ein deutscher Pass und eine lange Aufenthaltsdauer hierzulande schützen nach den Ergebnissen der Studie kaum vor archaischen Strukturen in der eigenen Familie.
Nach Angaben der Betroffenen sind 83,4 Prozent der Eltern Muslime. Fast ein Drittel der Opfer vollzogener oder versuchter Zwangsheiraten in Deutschland ist 17 Jahre oder jünger. 40 Prozent sind zwischen 18 und 21 Jahren alt, heißt es in der Studie.
Muslimische Autoritäten stärker einbeziehen
Ministerin Schröder sagte in Richtung der Muslime: "Wir sollten allerdings weniger streiten, ob der Islam Teil des Problems ist, sondern wir sollten uns stärker fragen, ob er Teil der Lösung sein kann."
Maria Böhmer (CDU), die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung
(Foto: dpa) Maria Böhmer (CDU), die Integrationsbeauftragte der BundesregierungDeswegen müsse daran gearbeitet werden, dass muslimische Autoritäten in Deutschland es noch stärker als ihre Aufgabe begreifen, Zwangsverheiratungen zu verweigern und dagegen einzuschreiten.
Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Maria Böhmer vertritt die Auffassung, dass auch die Herkunftsländer an Lösungen beteiligt werden müssen. So gebe es dazu bereits Kontakte zur türkischen Frauenministerin. In der Türkei soll in Kürze ein Gesetz gegen Gewalt in der Familie eingebracht werden, sagte Böhmer.
Böhmer, die die Zwangsverheiratung als schwere Menschenrechtsverletzung bezeichnete, verwies darauf, dass dort, wo Zwangsverheiratungen stattfinden, das einher gehe mit einem Abbruch des Schulweges oder der Ausbildung. Sie forderte deshalb, wie zuvor schon Ministerin Schröder, den schulischen Bereich noch stärker für das Thema zu sensibilisieren: "Das Thema Zwangsverheiratung muss auch Eingang finden in den Unterricht. Und wir brauchen es verankert in der Lehrerausbildung und in der Lehrerfortbildung." Zwei Drittel der Schulen allerdings stehen laut Erhebung dem Problem zur Zeit offenbar gleichgültig gegenüber.
Sprache als Schlüssel
Zwangsheirat - 14-jähriges Mädchen
(Foto: AP)Auch Minderjährige werden Opfer der ZwangsheiratVor allem jüngere Migrantinnen mit schlechten Deutschkenntnissen, die noch zur Schule gehen, wenden sich der Studie zufolge oft erst nach Hinweisen durch Dritte an Hilfeeinrichtungen. Das Beherrschen der deutschen Sprache sei daher "der Schlüssel für ein selbstbewusstes, ungezwungenes Leben, unabhängig von den Eltern".
Böhmer sieht durch die Studie die Entscheidung der Bundesregierung bestätigt, die Zwangsheirat als Straftatbestand ins Gesetz aufzunehmen und das Rückkehrrecht für Migranten, die zur Zwangsheirat ins Ausland verschleppt wurden, auf zehn Jahre zu verlängern.
Gewalt in Familien und Zwangsheirat
Auch für Jungs ist das Thema Zwangsehe von Bedeutung. Polizist Carsten Höpfner unterhält sich mit einer Gruppe von Berliner Schülern
(Foto: DW/Murat Koyuncu)Polizist Carsten Höpfner unterhält sich mit einer Gruppe von Berliner Jungen über Zwangsehe und GewaltZwei Drittel der von Zwangsheirat Bedrohten oder Betroffenen Personen haben schon in ihrer Erziehung Gewalt erfahren. Den Zusammenhang zwischen Gewalt in den Familien und Zwangsverheiratung bezeichnete die Bundesfamilienministertin als alarmierend.
Auch deshalb wird jetzt ein bundesweites Hilfe-Telefon "Gewalt gegen Frauen" auf den Weg gebracht. Betroffene sollen künftig Hilfe anfordern können, wenn ihnen Gewalt widerfährt oder Zwangsverheiratung droht - rund um die Uhr und mehrsprachig. Die Hotline wird aber erst ab Ende 2012 zur Verfügung stehen.
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