Wirtschaft, Goražde, Bosnien und Herzegowina, Balkan, Textilindustrie, Unternehmen
In der Nähwerkstatt des Autozulieferers Prevent in Goražde (Archiv) © Dado Ruvic
Es ist zwanzig Jahre her, dass der Krieg in Bosnien-Herzegowina zu Ende ging. Doch auf die Beine kommt das kleine Land nicht. Es herrschen Misswirtschaft, Korruption und Arbeitslosigkeit. Die jungen, gebildeten Menschen verlassen in Scharen das Land. 60.000 sollen es allein im letzten Jahr gewesen sein, bei einer Bevölkerung von knapp vier Millionen Menschen. Das Gesamtbild ist bedrückend.
Doch es gibt Ausnahmen, es gibt Städte wie Goražde. Hier, an den Ufern des Flusses Drina, umgeben von den dicht bewaldeten Bergen Ostbosniens, haben sich Betriebe angesiedelt und Tausende von Arbeitsplätzen geschaffen. Wenn man sich in der Hauptstadt Sarajevo nach positiven Beispielen umhört, heißt es: "Fahren Sie nach Goražde!" Die Stadt gilt als Art bosnisches Wirtschaftswunder, eine Oase in der Nachkriegswüste. Wie ist das möglich? Was ist an Goražde besonders? Und gibt es ein Rezept, das man auch im Rest des Landes anwenden könnte?
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Am Eingang der Stadt sind schön sichtbar die Schilder der Unternehmen angebracht, die sich niedergelassen haben. Doch hier steht auch ein Schild, das auf einen ganz anderen Zusammenhang hinweist: "Goražde – Stadt der Helden". Den Titel hat sich die Stadt selbst gegeben, weil sie im Krieg einer jahrelangen Belagerung durch serbische Milizen widerstanden hat. Und in diese Vergangenheit muss man zunächst kurz eintauchen, um das "Wunder" von Goražde zu verstehen.
1993 richtete der Bürgermeister von Goražde via Radio einen außergewöhnlichen Appell an den damaligen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton: "Bitte, Herr Präsident! Bombardieren Sie uns!"
Das war ein verzweifelter Aufruf einer Stadt, die von der Belagerung durch serbische Milizen um jeden Preis befreit werden wollte. Goražde war bereits kurz nach Beginn des Krieges, im April des Jahres 1992, umzingelt und eingeschlossen worden. Zu den rund 20.000 Bewohnern kamen noch 40.000 Flüchtlinge hinzu, die vertrieben worden waren. Alles schien besser, als eingekesselt zu sein. Doch die Nato weigerte sich zu intervenieren. Man könnte ja Zivilisten treffen, so lautete eines der Argumente. Erst im April 1995 endete die Belagerung, als die Nato in ganz Bosnien den Frieden erzwingen konnte.
Es klingt paradox, aber eine Stadt, die sich einmal freiwillig bombardieren lassen wollte, kann aus der Sicht eines Unternehmers eine ideale Stadt für Investitionen sein. Denn sie wird jeden, der hier was aufzubauen verspricht, mit offenen Armen empfangen und alles tun, damit er die besten Bedingungen vorfindet. Sie wird ihm keine Schwierigkeiten machen und tun, was er verlangt: Spottbillige Grundstücke, fünf Jahre lang keine Steuern, schnelle Genehmigungsverfahren für jede zu bauende Fabrikhalle, zügige Zollabfertigung, billige und willige Arbeitskräfte.
Freilich, es braucht Unternehmer, die sich dazu entschließen, nach Goražde zu kommen, immerhin genießt Bosnien-Herzegowina nicht gerade den Ruf, ein investitionsfreundliches Land zu sein. Grassierende Korruption, überbordende Bürokratie, instabile politische Verhältnisse. Das ist für Investoren alles ziemlich abschreckend, auf den ersten Blick jedenfalls.
Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 35 vom 27.08.2015. Die aktuelle ZEIT können Sie am Kiosk oder hier erwerben.
Doch es lohnt sich, genauer hinzusehen. Da ist zum Beispiel dieser Steg aus Holz unter der Brücke, die sich über die breite und ruhig dahinfließende Drina spannt und die beiden Stadtteile Goraždes verbindet. Dieser Steg ist während des Krieges errichtet worden, weil die serbischen Heckenschützen von den umliegenden Bergen die Menschen beschossen, die auf der Brücke liefen. Heute sind unter der Brücke Fotos vom Krieg zu besichtigen. Sie zeigen unter anderem aus Holz gefertigte Mühlräder, die am Brückengeländer festgemacht sind und sich im Wasser der Drina drehen. Diese Räder erzeugten Strom für die Stadt, denn die serbischen Milizen hatten bereits bei Beginn der Belagerung Strom und Wasser abgedreht.
Die Belagerten hatten nichts und erfanden alles, was sie über drei Jahre lang durchhalten ließ. Sie erzeugten Strom, erschlossen Wasserquellen, bastelten Schusswaffen und produzierten Patronen, Granaten, Minen und Sprengkörper aller Art. "Unsere Leute waren sehr erfindungsreich", sagt Nafija Hodo vom Arbeitsamt Goražde, "sie waren im Anfertigen von Dingen immer schon geschickt." Nafija Hodo hat das alles selbst erlebt, sie war während des gesamten Krieges in der Stadt. Und sie erinnert sich noch an den Widerstandsgeist der Stadt: "Wir haben alle zusammengehalten. Es gab viel Solidarität!"....................http://www.zeit.de/2015/35/gorazde-bosnien-herzegowina-krieg-wirtschaftswunder-arbeitsmarkt/seite-3http://www.zeit.de/2015/35/gorazde-bosnien-herzegowina-krieg-wirtschaftswunder-arbeitsmarkt